Angefangen in der Schöpfung
Keplers neue Himmelsphysik und Galileis Beobachtungen delogierten die Erde aus dem Zentrum der Welt und begründeten die Erforschung des Universums mit naturwissenschaftlichen Methoden.
1609 stellte Galileo Galilei in Venedig ein Fernrohr vor. Durch das neue Instrument sah er tausende, dem bloßen Auge verborgene Sterne, er erkannte Gebirge auf dem Mond und er konnte den Lauf der Venus um die Sonne verfolgen. Im selben Jahr veröffentlichte Johannes Kepler in Prag seine ersten beiden Gesetze über die elliptischen Planetenbewegungen. Keplers neue Himmelsphysik und Galileis Beobachtungen delogierten die Erde aus dem Zentrum der Welt und begründeten die Erforschung des Universums mit naturwissenschaftlichen Methoden. Der Italiener und der Deutsche schrieben einander Briefe, sind sich aber niemals begegnet. Eigentlich schade, finde ich. Also stelle ich mir vor, wie die beiden Begründer der modernen Astronomie vier Jahrhunderte später aufeinandertreffen. Mit- und gegeneinander vermessen die beiden ein Weltall, das kein Zentrum hat und sich beschleunigt ausdehnt.
Kepler: Im Vatikan hängt heute ein Porträt von Ihnen. Sie sind rehabilitiert.
Galilei: Die Kirche ist rehabilitiert.
Kepler: Die Erde steht nicht still.
Galilei: Mit 100.000 Kilometern pro Stunde läuft sie um die Sonne.
Kepler: Sie hatten recht.
Galilei: Auf einer elliptischen Bahn. Sie ebenfalls.
Kepler: Mich bezichtigt man jetzt des Mordes.
Galilei: Sie sollen Brahe vergiftet haben, um an seine Marsdaten zu kommen?
Kepler: Welche ich nachweislich schon vor Tychos Tod besaß.
Galilei: Toxikologen fanden Spuren von Quecksilber in seinem Haar?
Kepler: Tycho war Alchemist und ständig mit dieser Substanz in Kontakt.
Galilei: Keine Beweise?
Kepler: Nur Indizien.
Galilei: Erinnert mich an Dunkle Energie.
Kepler: Soll das Universum immer schneller ausdehnen.
Galilei: Aber kein Physiker weiß, was sie ist.
Kepler: Das Weltall dehnt sich aus. Das ist Faktum.
Galilei: Trotzdem bekomme ich in Rom nie einen Parkplatz.
Kepler: Weil nur der Raum zwischen den Galaxien expandiert.
Galilei: Zwischen den Sternen und Planeten hält die Schwerkraft alles zusammen?
Kepler: Auch die Erde bleibt natürlich immer gleich groß.
Galilei: Und die Parkfläche in Rom.
Kepler: Habe neulich durch ein modernes Teleskop geschaut.
Galilei: Durch meine Erfindung?
Kepler: Das Fernrohr ist in Holland entstanden ...
Galilei: Aber ich habe es als Erster in den Himmel gerichtet.
Kepler: ... in der Werkstatt eines einfachen Brillenmachers.
Galilei: Und? Was haben Sie beobachtet?
Kepler: Die Rotverschiebung des Lichts ferner Galaxien.
Galilei: Haben Sie nicht ein Augenleiden?
Kepler: Ein eindeutiger Beweis für die Expansion des Universums.
Galilei: Sehen Sie nicht alles doppelt?
Kepler: Ist kuriert. Lasertechnik.
Galilei: Vielleicht 16 Nachbarplaneten statt acht?
Kepler: Es sind nur mehr sieben.
Galilei: Wie bitte?
Kepler: Es geschah in Prag.
Galilei: Ihre Degradierung zu Brahes Datenknecht?
Kepler: Plutos Degradierung! – Ich war kaiserlicher Hofmathematiker in Prag.
Galilei: Aber erst nach Brahes Tod. – Und was soll Pluto jetzt sein?
Kepler: Ein Zwergplanet. Seit 2006.
Galilei: Wer behauptet das?
Kepler: Die Internationale Astronomische Union.
Galilei: Mit welchem Argument?
Kepler: Pluto beherrscht seine Umlaufbahn gravitativ nicht.
Galilei: Ein Grund, ihn aus dem Sonnensystem zu mobben?
Kepler: Wer seine Umlaufbahn nicht aufräumt, ist ein Zwerg. Ein Zwergplanet.
Galilei: Umkreisen die Sonne nur mehr acht Planeten.
Kepler: Die Sonne, unser Lebensstern ...
Galilei: ... ist auch nur Mittelmaß.
Kepler: Das so magisch leuchtet?
Galilei: Spektraltyp G2. Normale Leuchtkraft.
Kepler: Sieht aus wie ein Riesenlampion!
Galilei: Die Sonne ist ein mittelgroßer bis kleiner Stern.
Kepler: Die Erde hätte 109 Mal Platz in ihr!
Galilei: Die Masse der Sonne ist Durchschnitt.
Kepler: Ihre Kerntemperatur beträgt 15 Millionen Grad Celsius!
Galilei: Durchschnitt.
Kepler: Ihre Oberfläche ist an die 6000 Grad Celsius heiß!
Galilei: Durchschnitt.
Kepler: Die Sonne umkreist ein Planet, auf dem Leben existiert?
Galilei: Nicht ... Durchschnitt.
Kepler: Seit 3,8 Milliarden Jahren.
Galilei: Vom ersten Einzeller bis zum Menschen. Bis zu Ihnen und mir.
Kepler: Und? Sind wir auch „Durchschnitt“?!!!
Galilei: Ich? ... nicht. – Auch die Erde nicht. Aber die Sonne! Sie ist und bleibt ein ...
Kepler: ... Durchschnittsstern. Ich hab?s jetzt.
Galilei: Der macht, was alle Sterne machen.
Kepler: In der Milchstraße soll es 100 Milliarden geben.
Galilei: Er verbrennt in seinem Inneren leichte Elemente zu schweren.
Kepler: Vor 400 Jahren? Wie viele Sterne haben Sie da eigentlich durch Ihr Fernrohr gezählt?
Galilei: Ein Stern ist ein Kernfusionsreaktor am Himmel.
Kepler: Etwas mehr als Zehntausend?
Galilei: Ein Stern ist ein atomarer Glutofen am Himmel.
Kepler: Das war beinahe nichts.
Galilei: Immer noch mehr als Sie in Ihre Rudolfinischen Tafeln eingetragen haben. Das waren nur tausend.
Kepler: Der Faktor 10 macht keinen so großen Unterschied ... am Himmel.
Galilei: 70 Milliarden Sterne soll es heute im gesamten Universum geben.
Kepler: Haben Sie einen Liebling?
Galilei: Keinen speziellen. Ich mag die heißen und hellen Riesen.
Kepler: Die blauen Pfaue, die alles überstrahlen?
Galilei: Die Masse macht?s!
Kepler: Und nimmt es schnell wieder!
Galilei: Je massereicher ein Stern ist, desto heller strahlt er.
Kepler: Und desto schneller verbrennt und erlischt er.
Galilei: Lieber auf großem Fuß und intensiv leben, als zwergenhaft dahinsiechen.
Kepler: Gewiss. Sich aufblähen zu 120 Sonnenmassen. Und nach großem Knall im Schwarzen Loch verschwinden.
Galilei: Immer noch besser, als gar keine Kernfusion zu zünden.
Kepler: Überriese!
Galilei: Brauner Zwerg!
Kepler: Sie sind ... astronomisch gesehen ... eine nukleare Eintagsfliege.
Galilei: Und Sie bringen es höchstens zum Weißen Zwerg! Geburtsgewicht unter acht Sonnenmassen. Ihre Kernfusion endet schon beim Helium. Zurück bleibt ein Kohlenstoff-Sauerstoff-Kern, der immer weiter auskühlt, bis er kaum mehr zu sehen ist. Sie enden als leuchtschwacher Aschehaufen im All!
Kepler: Und Sie als Neutronenstern! Kollabieren unter Ihrer eigenen Schwerkraft. Zu einer kleinen Kugel, deren Durchmesser nicht größer als New York ist. Mit ihrer aberwitzigen Materiedichte drehen Sie wie ein Eiskunstläufer Pirouetten im All und fuchteln dabei mit zwei magnetischen Riesenkeulen herum. Ein lächerliches Bild geben Sie ab!
Galilei: Und Sie schaffen es nicht einmal wie die Sonne zum Roten Riesen. Sie magersüchtiger Plasmaball!
Kepler: Wissen Sie, was ich so schön an diesem expandierenden Universum finde? – Es hat kein Zentrum.
Galilei: Keine Mitte.
Kepler: Oder nur Mittelpunkte, wie man?s nimmt.
Galilei: Weder die Erde, noch die Sonne ...
Kepler: ... noch ein anderer Stern oder eine andere Galaxie ...
Galilei: ... sind ausgezeichnete Orte in diesem Universum.
Kepler: Geozentrisches oder heliozentrisches Weltbild? Ein hinfälliger Streit aus unseren Tagen.
Galilei: Was Kopernikus wohl dazu gesagt hätte?
Kepler: Dafür gibt es einen Startpunkt
Galilei: Den Urknall. Eine Explosion vor 13,7 Milliarden Jahren.
Kepler: Der Beginn von allem.
Galilei: Materie, Energie, Raum und Zeit.
Kepler: Wenn die Galaxien auseinander fliegen, weil der Raum zwischen ihnen expandiert, müssen sie früher näher beisammen gewesen sein. Und vor 13,7 Milliarden Jahren war alles nur ein einziger Punkt.
Galilei: Fragen Sie mich aber jetzt nicht, wer oder was diesen Punkt schuf?
Kepler: Wussten Sie das nicht schon vor 400 Jahren?
Galilei: Oder woher dieser Punkt kam?
Kepler: Wie nannten Sie Ihr Weltentstehungsmodell?
Galilei: Urfall.
Kepler: Gott lässt sämtliche Planeten von einem Punkt aus in den Kosmos fallen.
Galilei: Eine Vorwegnahme des Urknallmodells, wenn man so will.
Kepler: Lächerlich. Schon damals.
Galilei: Und was war mit Ihrem „Mondtraum“?
Kepler: Eine literarische Phantasmagorie. Natürlich spekulativ. Aber auch visionär ... an einigen Stellen.
Galilei: Ein „Dämon“ reist im dunklen Schatten der Erde auf dem Mond. Wohl ein Vorbote der bemannten Raumfahrt?
Kepler: Könnte man so sagen.
Galilei: Mit eigenartigen Halluzinationen. Über eine Lufthülle, Sümpfe und Wasserflächen auf dem Mond.
Kepler: Und Ihre Gezeitentheorie? – Komplett falsch!
Galilei: Und Sie hielten die Supernova von 1604 für einen neuen Stern!
Kepler: Planetarische Ohren! War das nicht Ihre Bezeichnung für die Saturnringe!
Galilei: Betreiben Sie eigentlich immer noch Astrologie?
Kepler: War vor 400 Jahren Teil der Astronomie.
Galilei: Was Sie nicht alles aus den Sternen herausgelesen haben?
Kepler: Bei den Türkeneinfällen in der Wiener Umgebung lag ich immerhin richtig!
Galilei: Haben Sie nicht für Wallenstein Horoskope erstellt!
Kepler: Und Sie für den Großherzog der Toskana!
Galilei: Und Sie für Rudolf II.!
Kepler: Der Kaiser hat mich nie bezahlt.
Galilei: Wie viel schuldet er Ihnen?
Kepler: 11.817 Gulden.
Galilei: Wäre heute mit Astrologie leicht zu verdienen.
Kepler: Meinen Sie?
Text: Armin Stadler, Ö1 Wissenschaftsredakteur (aus: gehört. Das Ö1 Magazin 7 (2013) Nr. 211, 6–7).